"Patriot"
Auszüge aus Nawalnys Tagebuch enthüllen Unmenschlichkeiten im Straflager
- Veröffentlicht: 16.10.2024
- 00:15 Uhr
- Oliwia Kowalak
Am 22. Oktober erscheint die Autobiografie von Kreml-Kritiker Alexei Anatoljewitsch Nawalny. Vorab haben mehrere Medien Auszüge veröffentlicht – mit brisanten Details über seine Gefangenschaft im Russland.
Das Wichtigste in Kürze
In seinem Gefängnistagesbuch beschreibt der russische Oppositionelle Alexej Nawalny die unmenschlichen Bedingungen im russischen Gefängnis.
Mitunter haben Wärter versucht, seinen 24-tägigen Hungerstreik zu sabotieren und ihn dabei auch verspottet.
Die Ermittlungen zur Todesursache vom Kreml-Gegner laufen indes weiter.
Der Tod des Kreml-Gegners Alexei Anatoljewitsch Nawalny bewegte den gesamten Globus. Der russische Oppositionsaktivist ist nach seiner Verhaftung 2021 in Russland bis zu seinem Todestag im 16. Februar 2024 in russischer Gefangenschaft verblieben. Laut Behördenangaben, ist er im Straflager mit dem Namen "Polarwolf" in Charp verstorben. Zunächst verschwand die Leiche des Kremlkritikers – die Todesursache wirft weiterhin Fragen auf.
Das "Times Magazin" und "The New Yorker" veröffentlichten nun vorab Auszüge aus dem Gefängnistagebuch des 47-Jährigen. In den verfassten Memoiren berichtet der politische Gegner des russischen Präsidenten Wladimir Putin mitunter über den 24-tägigen Hungerstreik, während er seine Haftstrafe absaß. Im Zuge dessen haben nach Nawalnys Darstellung Wärter versucht, den Hungerstreik zu sabotieren, indem sie ihm Süßigkeiten in die Tasche zusteckten.
Aus den Berichten geht hervor, dass Nawalny sich bewusst darüber war, dass er im Gefängnis sterben würde. In seinen Notizen hieß es: "Ich werde den Rest meines Lebens im Gefängnis verbringen und hier sterben", schrieb er am 22. März 2022. Er hoffe, dass seine Memoiren ein Andenken an ihn sein würden, wenn "sie mich schließlich umbringen".
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Spott und Hohn: Wärter wollten Nawalnys Hungerstreik untergraben
Während seines Hungerprotestes im Jahr 2021 verlor Nawalny durchschnittlich ein Kilogramm pro Tag. Den Streik hat der Inhaftierte damals angetreten, weil er aufgrund heftiger Schmerzen wegen eines eingeklemmten Nervs im Rücken medizinische Versorgung verlangt hat. Da die ärztliche Behandlung im Gefängnis unzureichend ausfiel, habe ihm der Verlust seines rechten Beins gedroht.
Am 2. April schrieb der Kreml-Kritiker, dass er zweimal Süßigkeiten in seinen Taschen gefunden habe. Weiterhin habe ihn ein Gefängniswärter dazu gezwungen, mit in die Kantine zu kommen und sich mit seinem Essen an den Tisch zu setzen. "Ich bin in die Kantine gegangen, habe aber natürlich kein Essen bekommen", steht es in seinem Tagebuch geschrieben. „Ich ging direkt zu einem Tisch. Ein furchtbar gerissener Feldwebel versuchte, mich zu überreden, in der Schlange zu stehen, Essen zu bekommen, mich damit an den Tisch zu setzen, es dann aber anderen zu geben", hieß es weiter. "Ich habe schon zweimal Süßigkeiten in meinen Manteltaschen gefunden. Beim ersten Mal war es nicht einmal ich, der sie 'entdeckte', aber dann, bei einer Durchsuchung, fingen sie an zu kichern: "Oh je, Alexej Anatoljewitsch, was machen diese Süßigkeiten hier?", schrieb er weiter.
Der nächste Versuch folgte dann zwei Tage später. Ein Mitgefangener durfte den Aufzeichnungen Nawalnys zufolge Hähnchen und Brot für die ganze Abteilung braten. "Ich bin froh, dass mein Geist dem Brathähnchen nicht erlegen ist", berichtete er. „Nach dem Hähnchen haben sie angefangen, Brot zu braten, wobei sie die Tür zur Küche absichtlich offen gelassen haben. Brot ist schwieriger. Es ist meine Schwäche. Der Geruch von gebratenem Roggenbrot zieht mich wirklich an", berichtet er über die Versuche seinen Protest zu unterbrechen. Am darauffolgenden Tag erkrankte Nawalny an Fieber – sein Gewicht betrug am 7. April nur noch 80 Kilogramm. Der Hungerstreik wurde nach zwei Wochen beendet, da das Gefängnis seiner Forderung nachkam.
Folter und Demütigung: Ermittlungen zu Nawalnys Todesursache gehen weiter
Der russische Oppositionelle war wegen "Extremismus" zu 19 Jahren Haft verurteilt worden. Während seines Aufenthalts beklagte der politische Gefangene die Missstände im Gefängnis. Demütigung, Folter und Isolation müssten die Gefangenen der Strafkolonie ertragen. Mitunter solle er unter Schlafentzug gelitten haben, da er im Straflager stündlich geweckt worden sei. "Ich hätte nie gedacht, dass man hundert Kilometer von Moskau entfernt ein echtes Konzentrationslager betreiben kann", schrieb er im Jahr 2021 auf den sozialen Medien. Wie den Memoiren zu entnehmen ist, sei es auch zu Vergewaltigungen von Gefangenen durch Wächter gekommen.
Nach Nawalnys Tod haben sich Behörden mit Details zurückgehalten. Die Gefängnisverwaltung teilte damals mit, Nawalny habe sich nach einem Spaziergang schlecht gefühlt und "fast unverzüglich" das Bewusstsein verloren, wie die "Tagesschau" berichtete. Nach einem Wiederbelebungsversuch durch Rettungskräfte stellten die Ärzte um 14.17 Uhr Ortszeit seinen Tod fest. Offiziell sprach man seitens russischer Behörden von einem "plötzlichen Todessyndrom". Später hieß es in der offiziellen Version, er sei an "Herzversagen nach einem Kreislaufkollaps" gestorben.
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Laut Recherchen des exilrussischen Portals "The Insider" sollen Dokumente von Ermittlungsbehörden bestätigen, dass der politische Gefangene getötet wurde. In den Dokumenten wird beschrieben, wie Nawalny plötzlich starke Bauchschmerzen bekommen habe. Im Anschluss sei er in seine Zelle zurückgebracht worden und hätte erbrochen und starke Krämpfe gehabt. Danach habe er das Bewusstsein verloren, bevor er in die Sanitätsabteilung gebracht wurde. Vom Erbrochenen und Essen seien für die Ermittlungen Proben genommen worden.
Ärzte betonten, dass die Schilderungen in Widerspruch zur offiziellen Todesursache stehen würden. Für den Mediziner Alexander Polupan, der Nawalny schon bei einem Vergiftungsversuch im Jahr 2020 behandelt hatte, deuten die Symptome auf eine Vergiftung durch die Einnahme eines Gifts aus der Kategorie der organischen Phosphorverbindungen hin. Die Ermittlungen zur Todesursache laufen derweil weiter.
"Patriot" erscheint am 22. Oktober
Das Buch mit dem Titel "Patriot", das am 22. Oktober beim Fischer Verlag erscheinen soll, spiegelt die Einsamkeit der Gefangenschaft wider. Nawalny beschreibt auf humorvolle Art die unmenschlichen Bedingungen, denen die Häftlinge bei der Arbeit ausgesetzt waren: "Bei der Arbeit sitzt man sieben Stunden lang an der Nähmaschine auf einem Hocker unterhalb der Kniehöhe", und weiter: "Nach der Arbeit sitzen Sie noch ein paar Stunden auf einer Holzbank unter einem Putin-Porträt. Das nennt man 'disziplinarische Tätigkeit'".
In seinen Memoiren hieß es weiter: "Das Einzige, was wir fürchten müssen, ist, dass wir unsere Heimat aufgeben, um von einer Bande von Lügnern, Dieben und Heuchlern ausgeplündert zu werden". Auf die Frage eines Mitgefangenen und Gefängniswärters, warum Nawalny nach Russland zurückgegangen ist, schrieb er am 17. Januar 2024 in seinem Tagebuch: "Ich will mein Land nicht aufgeben oder es verraten. Wenn deine Überzeugungen etwas bedeuten, musst du bereit sein, für sie einzustehen und notfalls Opfer zu bringen".
- Verwendete Quellen:
- Nachrichtenagentur dpa
- newyorker.com: "Alexei Navalny’s Prison Diaries"
- independet.co.uk: "Navalny’s prison diary: Guards slipped sweets in his pocket to 'undermine' hunger strike as he lost 1kg a day"
- dw.com: "Nawalny tritt im Gefängnis in Hungerstreik"
- Tagesschau.de: "Tod von Nawalny - was wir wissen und was nicht"
- theins.ru: ""Начал высказывать жалобы на резкую боль в животе": документы, полученные The Insider, указывают на то, что Навальный был отравлен в тюрьме"