Deserteure auf beiden Seiten
Ukraine-Krieg: Warum begehen immer mehr Soldaten Fahnenflucht?
- Veröffentlicht: 21.01.2025
- 16:29 Uhr
- Kira Born
Im Ukraine-Krieg fordern nicht nur die Front-Kämpfe immer mehr Soldaten:innen, sondern immer mehr Truppen auf russischer und ukrainischer Seiten desertieren. Die Gründe sind jedoch verschieden.
Das Wichtigste in Kürze
Im Jahr 2024 desertierten aus den ukrainischen Reihen mehr als doppelt so viele Soldaten:innen wie im vorangegangenen Jahr.
Auf russischer Seite spitzen sich die Zahlen der fahnenflüchtigen Soldat:innen ebenso weiter zu.
Die Ukraine versucht deshalb immer, Mitglieder des russischen Militärs zum Weglaufen zu animieren – wobei auch Europa helfen könnte.
In rund einem Monat jährt sich die Ausweitung des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine zum dritten Mal – und in diesem langanhaltenden Konflikt stehen beide Seiten nun vor dem großen Problem des Personalmangels. Und das entsteht jetzt immer häufiger durch das Desertieren von Soldat:innen. Immer mehr ukrainische und russische Truppen an der Front begehen Fahnenflucht. Seit dem Einmarsch der russischen Armee im Februar 2022 wurden mehr als 100.000 ukrainische Soldat:innen aufgrund der Desertionsgesetzes angeklagt, wie die Nachrichtenagentur AP berichtet.
Hinzukommt der schon bestehende Personalmangel, wie der ukrainischen Oberkommandeurs Olexander Syrskyj zugibt. Nach Syrskyj müsse die Zahl der Soldat:innen in den mechanisierten Brigaden erhöht werden, sagte er im Rundfunk, wie die Deutsche Presse-Agentur berichtet. Doch gerade für die russische Armee, die ihre Kräfte aus allein Teilen des Landes zusammen zieht, könnte das Maß der fliehenden Soldat:innen das größere Problem werden, wie Politologe Jason Lyall erklärt.
Russische Armee besonders anfällig für desertierende Soldaten
Wie der Professor für transatlantische Studien an der US-Universität Dartmouth erklärt, hatten historisch nicht alle Armeen bei lang anhaltenden Kriegshandlungen Probleme mit Massendesertion, so Lyall. Doch ein Hauptgrund für desertierte Truppen ist die "militärische Ungleichheit", die besonders in der Armee Russland zu finden ist. Damit ist eine ethnisch diverse Truppe gemeint, in welcher viele ethnische Minderheiten kämpfen und diese "werden dort überproportional häufig getötet", wie Lyall im Interview mit dem "Spiegel" sagt.
Die russische Armee besteht zu etwa 70 Prozent aus ethnischen Russen, die auch "im Offizierskorps überproportional vertreten" und auch in der Medienbetrachtung stärker im Fokus stehen, als diejenigen, die ethnisch "nicht russisch sind" so der Politologe. Diese Minderheiten werden systematisch bei Beförderungen und wichtigen Schlüsselpositionen übergangen oder werden für Fehlverhalten härter bestraft, so Lyall. Aber nicht nur entlang kultureller Grenzen, sondern auch durch "Klassendimension" bildet sich eine Ungleichheit, die einen Nährboden für Fahnenflucht bildet: "Männer aus weniger wohlhabenden Teilen des Landes "gehen vor allem zur Armee, weil sie arm sind und schnell Geld verdienen wollen. Sie sind jedoch keine überzeugten Befürworter des Krieges – sie desertieren als Erste, wenn etwas schiefgeht", wie Lyall erklärt.
Der Experte geht davon aus, dass die von Russland bei 13.000 beziffert Zahl von Deserteur:innen deutlich höher liegt. "Die Dunkelziffer ist deutlich höher, vielleicht mehr als drei- oder viermal so hoch. Etwa 250.000 Männer im kampffähigen Alter sind schon während der Mobilisierungskampagne im Herbst 2022 geflüchtet", schätzt der Politologe.
Um den hohen Zahlen von Fahnenflüchtigen entgegenzuwirken, werden die Soldat:innen als vermisst gemeldet, da so auch die Kommandeure sich selbst schützten. Denn bei einer hohen Zahl flüchtiger Soldat:innen werden sie zur Rechenschaft gezogen, wie der "Spiegel" berichtet.
Ukraine kämpft ebenfalls mit fahnenflüchtigen Soldaten
Die ukrainische Armee kämpft unterdessen mit einem sich verschärfenden Maß an desertierender Soldat:innen. "Die Desertion hat sich 2024 im Vergleich zum Vorjahr fast verdreifacht", gibt Politikwissenschaftler Lyall an. Aber die Gründe sind völlig andere, als die im russischen Militär: "Die Ukrainer desertieren vor allem, weil sie erschöpft sind. Das liegt an der mangelhaften Rotation: "Sobald man an der Front ist, muss man im Grunde dort bleiben, ohne klares Dienstende in Sicht", ist laut des Experten der Hauptgrund für die Fahnenflucht auf ukrainischer Seite.
Auch das Alter spiele eine Rolle. Viele Soldat:innen in den Reihen der Ukraine sind über dreißig oder sogar über vierzig und stoßen durch die anhaltenden Kampfhandlungen an "ihre physischen Grenzen".
"Wir sehen selten Armeen mit so vielen Soldat:innen in ihren Dreißiger- und frühen Vierzigerjahren wie die derzeitige ukrainische Armee", so Lyall.
Schon vor Putin: Hohes Maß an Deserteuren im russischen Militärs
Die hohe Zahl desertierender Soldat:innen sei laut des Experten kein neues Problem, sondern hätte die russischen Truppen schon während der Sowjetunion und dem Zarenreich begleitet.
Während der Zaren-Monarchie und des Ersten Weltkrieg wurden "sogenannte Sperreinheiten" eingesetzte, "die Fluchtwege abschnitten und Deserteure jagten." Während des Zweiten Weltkriegs setzte die Sowjetunion auf die gleiche Praktik: "Die Sowjets trieben dies im Zweiten Weltkrieg auf die Spitze: Ihre Sperreinheiten töteten etwa 158.000 eigene Soldaten, um sie an der Flucht zu hindern – mehr Männer, als die Amerikaner im Zweiten Weltkrieg im Pazifik verloren haben", so Lyall.
Ukraine animiert laut Experten russische Soldaten zum Disertieren
Um die Massen der Deserteur:innen im russischen Militär anzufeuern, sprechen ukrainische Soldat:innen "gezielt die Soldaten aus den ethnischen Minderheiten" an, wie Lyall sagt. Anders als ähnliche Kampagnen im Ersten Weltkrieg, als britische Flugblätter versuchten, arabische Soldat:innen zu überzeugen, ihren Dienst in der osmanischen Armee aufzugeben, verfolgen die Ukrainer:innen einen maßgeschneiderten Ansatz.
Sie kontaktieren Accounts von russischen Soldat:innen in den sozialen Netzwerken und schicken ihnen "individualisierte Botschaften aufs Handy. So eine maßgeschneiderte psychologische Kriegsführung hat es in der Geschichte noch nicht gegeben", erläutert der Politologe.
Bei dieser Taktik könnte Europa eine unterstützende Rolle einnehmen. Ein wichtiger Aspekt der Flucht ist für Deserteur:innen, ob sie der gegnerischen Seite trauen könnten. "Wenn europäische Länder faire Behandlung garantieren würden, würde das mehr russische Soldaten zum Weglaufen ermutigen", mein Lyall. Dies könnte den Druck auf die russische Armee weiter erhöhen und mehr Soldat:innen zur Fahnenflucht aufseiten Russlands animieren.
- Verwendete Quellen:
- Nachrichtenagentur dpa
- Nachrichtenagentur AP